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14.05.2025

Ein Werkzeugkasten für neue Arzneistoffe

Neue Substanzbank soll Forschung und Arzneimittelentwicklung beschleunigen

Viele Medikamente basieren auf Kleinmolekülen. Sie entfalten ihre heilende Wirkung im Körper, indem sie ein Protein aktivieren oder hemmen. Um neue Arzneistoffe zu finden, entwickelt das Verbundforschungsprojekt EUbOPEN selektive chemische Werkzeuge zur Beeinflussung von insgesamt 1000 Zielproteinen – unabhängig davon, ob bereits bekannt ist, inwiefern diese Zielproteine an bestimmten Krankheitsprozessen beteiligt sind oder nicht.

Der Weg zu einem neuen Arzneimittel ist lang. Von der ersten Idee bis zur Anwendung bei Patientinnen und Patienten vergehen gewöhnlich zehn bis zwanzig Jahre. Zuerst muss ein geeignetes chemisches Molekül gefunden werden. Der Wirkstoffkandidat wird im Reagenzglas, mit Computersimulationen und im Tiermodell daraufhin untersucht, ob er in einem Organismus grundsätzlich eingesetzt werden kann, gefolgt von der Erprobung beim Menschen in klinischen Studien. Diese müssen die Wirksamkeit, Sicherheit, Verträglichkeit und Effizienz des Wirkstoffs aufzeigen, ebenso die korrekte Dosierung. Erst dann kann der neue Wirkstoff als Medikament zugelassen werden.

Allein die Suche nach Wirkstoffkandidaten ist ein jahrelanger Prozess, in dem akademische Einrichtungen eine wichtige Rolle spielen. Denn häufig schafft deren Grundlagenforschung erst das wissenschaftliche Fundament, dass pharmazeutische Unternehmen zulassungsreife Wirkstoffe entwickeln können. Um einen Wirkstoffkandidaten aufzuspüren, werden bis zu mehrere Millionen chemische Verbindungen untersucht (»gescreent«), und wenn sich eine davon als grundsätzlich brauchbar erweist, werden ­Tausende Moleküle synthetisch hergestellt, die ­dieser Vorlage ähnlichsehen, um daraus einen optimalen Kandidaten zu entwickeln. Ein Wirkstoff muss nicht nur gesund machen, er muss vom Körper gut vertragen werden und soll möglichst wenig Nebenwirkungen hervorrufen. Ideal sind dabei Wirkstoffe, die im Körper exakt und ausschließlich an jenem Punkt wirken, der für die eine Krankheit verantwortlich ist.

Neuer Ansatz in der Wirkstoffsuche

Dank der Erkenntnisse der modernen Zellbiologie versteht man immer besser, wie medizi­nische Wirkstoffe in den Körperzellen ihre ­Wirkung entfalten. Hierbei kommen häufig Kleinmoleküle zum Einsatz, die an einem Protein andocken und dieses so aktivieren oder hemmen. Ist das Zielprotein zum Beispiel für Kopfschmerzen verantwortlich, wird dieses gehemmt (oder »inhibiert«, wie Molekularbiologen sagen), damit die Schmerzen abklingen. Der Wirkungsmechanismus von Medikamenten ist hochkomplex; in der Regel ist eine Vielzahl von Proteinen an der Entstehung einer Krankheit beteiligt. Das ist nicht verwunderlich, denn in einer mensch­lichen Zelle sind rund 20 000 unterschiedliche Proteine aktiv: Sie lesen zum Beispiel die genetischen Informationen im Zellkern ab, sie regeln die Stoffwechselprozesse im Zellkörper, sie besorgen die Kommunikation mit Nachbarzellen über die Zellmembran. Die Rolle der meisten dieser Proteine in der Zelle und bei der Entstehung von Krankheiten ist jedoch oft unbekannt oder zumindest nicht ausreichend verstanden. Es ist daher schwer zu beurteilen, welches Zielprotein für die Arzneimittel­entwicklung ausgesucht werden soll. Häufig wurden deshalb Wirkstoffe gegen Zielproteine entwickelt, die sich erst sehr spät in klinischen Studien als unwirksam für die Heilung der Krankheit erwiesen haben. Aufgrund des langen Entwicklungs­weges von Arzneimitteln sind solche Fehleinschätzungen sehr kostspielig.

Das Forschungskonsortium EUbOPEN unter der Leitung der Goethe-Universität Frankfurt hat sich nun vorgenommen, die Grundlagenforschung nach pharmazeutischen Wirkstoffen mit einer neuen Methodik zu unterstützen und zu beschleunigen. Die Grundidee: Statt einen einzelnen Wirkstoff gegen ein bestimmtes Ziel­protein zur Behandlung einer Krankheit zu ent­wickeln, wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunächst sehr viele verschiedene Kleinmoleküle ausfindig machen, die in Zellkultur ein Zielprotein hochspezifisch (also ohne andere Proteine zu beeinflussen) an- oder abschalten können. Für ein solches Molekül verwenden die Wissenschaftler den englischen Begriff »chemical probe« (deutsch: »chemische Sonde«). Der Ansatz ermöglicht, in zellulären Krankheitsmodellen viele Zielproteine parallel mit diesen chemischen Sonden zu testen und so den besten Therapieansatz zu identifizieren.

Sammlung aus Kleinmolekülen

Die Vision dieses Ansatzes ist eine möglichst umfassende Sammlung von Kleinmolekülen, von denen jedes einzelne in der Lage ist, ein ausgewähltes Protein in der menschlichen Zelle zu aktivieren beziehungsweise zu hemmen. ­Stefan Knapp, Professor für Pharmazeutische Chemie an der Goethe-Universität Frankfurt, spricht in diesem Zusammenhang von einem Werkzeugkasten, der bei der Entwicklung neuer Medikamente hilft: »Die Sammlung aus hoch­selektiven Kleinmolekülen, an der wir arbeiten, enthält noch keine medizinischen Wirkstoffe, die optimiert genug sind, um im Menschen eingesetzt werden zu können. Die Sammlung ist eher mit einem Werkzeugkasten zu vergleichen: Wenn Sie wissen, dass ein bestimmtes Protein bei einer Krankheit eine Rolle spielt, können Sie auf unseren Werkzeugkasten zurückgreifen und finden dort ein Kleinmolekül, mit dem Sie die Aktivität des krankheitsrelevanten Proteins aktivieren beziehungsweise hemmen können. Das Kleinmolekül ist dann ein guter Ausgangspunkt für die Entwicklung eines klinisch wirksamen Wirkstoffs gegen die besagte Krankheit.«

Der konkrete Einsatz dieses Werkzeug­kastens lässt sich am Beispiel von Blutkrebs illustrieren, einer Krebsart mit Dutzenden von Subtypen, für die noch kaum zielgenaue Medikamente verfügbar sind. Die Vorgehensweise ist – vereinfacht dargestellt – die folgende: Man nimmt Gewebeproben eines Blutkrebs-Subtyps und bringt darauf alle Kleinmoleküle aus dem Werkzeugkasten auf. Zeigt eines (oder zeigen mehrere) der Kleinmoleküle eine Wirkung auf die Krebszelle, lässt sich – da die entwickelten Wirkstoffe hochselektiv sind – darauf schließen, welches Protein für die Krankheit ver­antwortlich ist. »Damit haben die Medizinalchemiker einen guten Anhaltspunkt, an welchem Protein oder welchen Proteinen sie ansetzen können, um ein Medikament gegen diesen Blutkrebstyp zu entwickeln«, sagt ­Stefan Knapp.

1000 Zielproteine zielgenau adressieren 

Der Aufbau dieses Werkzeugkastens ist das ­zentrale Ziel des Verbundforschungsprojekts EUbOPEN, das Stefan Knapp als akademischer Koordinator verantwortet. EUbOPEN steht für »Enabling and Unlocking biology in the OPEN«, frei übersetzt: die Nutzung der Molekular­biologie in einem Open-Science-Projekt. An EUbOPEN beteiligen sich neben der Goethe-Universität Frankfurt 16 akademische Einrichtungen und fünf Industriepartner. Das fünf­jährige Forschungsvorhaben verfügt über ein Budget von 65,8 Millionen Euro. Hauptgeld­geber ist die Innovative Health Initiative (IHI), die von der Europäischen Union und dem Europäischen Dachverband der Pharmaunternehmen und -verbände (EFPIA) getragen wird.

EUbOPEN ging 2020 an den Start. Der Werkzeugkasten soll am Ende des Projekts 5000 zielgerichtete Kleinmoleküle enthalten, die insgesamt 1000 Zielproteine aktivieren oder hemmen – das ist etwa ein Drittel aller Proteine in der Zelle, die derzeit durch Kleinmoleküle beeinflusst werden können. Bei der Entwicklung des Werkzeugkastens arbeitet die Frankfurter Forschungsgruppe um Stefan Knapp eng mit der Universität Oxford zusammen. Die Forscherinnen und Forscher in England steuern Kleinmoleküle für 300 der insgesamt 1000 geplanten Zielproteine bei. Das Karolinska-Institut in Stockholm deckt weitere 200 Zielproteine ab. Die restlichen 500 Zielproteine werden durch die Entwicklung und Charakterisierung von Kleinmolekülen an der Goethe-Universität erfasst. Die pharmazeutische Industrie unterstützt das Projekt, indem sie »chemische Sonden« aus ihren eigenen chemischen Werkzeug­kästen beisteuert. Dank des »Open Science«-­Charakters von EUbOPEN stehen alle Daten der ­weltweiten Forschungsgemeinschaft sofort und uneingeschränkt zur Verfügung. So erfolgt Wirkstoffforschung effizient und ohne Doppelspurigkeiten, wie sie durch die Geheimhaltung von Daten entstehen können. Ein Jahr vor Abschluss des Projekts im Frühjahr 2025 haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vier Fünftel ihres Arbeitsziels erreicht.

Einsatz von Hochdurchsatz-Screening

Im Institut für pharmazeutische Chemie der Goethe-Universität wirken rund 20 Chemiker, Zellbiologen und weitere Spezialisten aus der Forschungsgruppe von Stefan Knapp am EUbOPEN-Projekt mit. Ausgangspunkt für zielgenaue Kleinmoleküle sind Substanzen, die im Labor selbst synthetisiert oder von anderen ­Forschungseinrichtungen oder aus der Industrie zur Verfügung gestellt wurden. Die Ausgangsstoffe werden unter anderem auf ihre chemische Struktur, Reinheit, Toxizität und ihre ­Stabilität hin analysiert. Dafür kommen standardisierte Vorrichtungen (»Assays«) zum Einsatz, auf denen 384 Verbindungen gleichzeitig gescreent werden können. Um 5000 zielgenaue Kleinmoleküle zu finden, muss eine viel größere Anzahl chemischer Verbindungen durchforstet werden. Alle Untersuchungsergebnisse werden in einer Datenbank umfassend dokumentiert. Sie sind für Forschende weltweit frei zugänglich. EUbOPEN bezieht auch Zielproteine mit ein, die bislang noch nicht im Fokus der Wirkstoffentwicklung standen. Dazu gehören insbesondere zwei neue Familien von Zielmolekülen: zum einen sogenannte E3-Ligasen, die den Abbau von Proteinen in der Zelle regulieren und in Krankheiten wie zum Beispiel Parkinson eine Rolle spielen (siehe auch »Krankmacher gezielt entsorgen« auf S. 51), zum anderen sogenannte SLC(solute carrier)-Transporter, die in der Zellmembran aktiv sind. Beiden Proteinfamilien wird ein großes Potenzial für die Entwicklung neuer Medikamente zugeschrieben, jedoch wurden bisher noch keine effizienten und selektiven Wirkstoffe für fast alle Mitglieder dieser Proteinfamilien entwickelt.

Frankfurter Kompetenz in der Krebsforschung

Die Grundlagenforschung im Bereich der pharma­zeutischen Chemie hat in Frankfurt ein günstiges Umfeld: Die Universität kooperiert unter dem Dach des »Frankfurt Cancer Institute« (siehe auch »Gefährliche Nachbarschaft«, S. 29) unter anderem mit der Universitätsklinik und dem Georg-Speyer-Haus (Institut für Tumor­biologie und experimentelle Therapie). Die Anbindung an die klinische Praxis stellt sicher, dass die akademische Forschung Krebszellen von Patientinnen und Patienten einbeziehen kann. »Die Zusammenarbeit im Bereich Onkologie läuft bei uns in Frankfurt sehr gut. Um so komplexe Projekte wie EUbOPEN durchzuführen, brauchen wir am Standort ein Netzwerk aus Expertinnen und Experten, die gleich denken und sich mit ihrem Fachwissen einbringen«, sagt Stefan Knapp.

EUbOPEN ist ein Zwischenschritt mit Blick auf das langfristige Ziel, das die »Target-2035«­Initiative‹ bis Mitte des nächsten Jahrzehnts erreichen will: Bis dahin sollen »chemische ­Sonden« oder andere zielgenaue Kleinmoleküle für sämtliche 3000 bis 4000 möglichen

Ziel­proteine vorliegen, deren Aktivität nach ­heutigem Wissen mit konventionellen Kleinmolekülen moduliert werden kann. Damit wäre ein gut bestückter Werkzeugkasten für die ­Entwicklung von Arzneistoffen vorhanden, die nicht nur neue Krankheiten bekämpfen, sondern auch – so die Hoffnung der Wissenschaft – personalisierte Behandlungen ermöglichen, die den zum Beispiel genetisch festgelegten Subtyp der Erkrankung ebenso berücksichtigen wie die individuellen Voraussetzungen der Patienten.

Blaupause für künftige Forschungspartnerschaften

Das Verbundforschungsprojekt EUbOPEN arbeitet unter dem Dach des »Structural Genomics Consortium«. Dieses hat seit seiner Gründung 2004 mehrere große Forschungsvorhaben in öffentlich-privater Partnerschaft realisiert. Es ging dabei jeweils um Grundlagenforschung, einen Bereich, in dem die Unternehmen nicht im Wettbewerb stehen und Patentfragen noch nicht relevant sind. »Unsere Arbeiten im ­Rahmen der SGC-Initiative haben großen Einfluss auf die nächste Generation der Wirkstoff­entwicklung in der Industrie«, sagt Stefan Knapp. »Akademische Forschung und Industrie kooperieren hier auf gleicher Augenhöhe. Diese Herangehensweise ist eine Blaupause für weitere Open-Science-Projekte, welche die zügige Entwicklung bezahlbarer Medikamente unterstützen.«

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